Beschreibung

Die Degeneration von neuronalen Strukturen des Auges ist die häufigste Ursache irreversibler Sehbehinderung. Netzhaut und Sehnerv können dabei durch eine Vielzahl pathologischer Vorgänge geschädigt werden. Die meisten dieser Erkrankungen sind bisher im Detail nicht vollständig aufgeklärt, ebenso wenig gibt es evidenzbasierte Möglichkeiten, den Untergang von okulärem Nervengewebe zu verlangsamen. Wir haben uns daher zum Ziel gesetzt, bei einer dieser Erkrankungen, nämlich der Sehnerventzündung (Neuritis nervi optici), den Untergang retinaler Ganglienzellen und ihren Axone durch die Gabe einer neuroprotektiven Substanz zu reduzieren. Sollte dieses Vorhaben gelingen, wäre es nicht nur ein Proof of concept für Neuroprotektion entlang der Sehbahn, sondern hätte unmittelbare Konsequenzen für die Therapie der Multiplen Sklerose (MS), deren Erstmanifestation nicht selten eine Sehnerventzündung ist.

Die Sehnerventzündung betrifft meist jüngere Erwachsene und führt innerhalb von Tagen zu einer spürbaren Sehminderung. Zwar erholt sich die Sehschärfe in 2/3 der Fälle wieder innerhalb von Wochen, viele Betroffene jedoch sind durch Einbußen im Kontrast- und Farbensehen dauerhaft eingeschränkt. Trotz der relativ guten Prognose entwickelt sich innerhalb weniger Monate eine Teilatrophie des Sehnervens. Zur Beschleunigung der Erholung der Sehfunktion erhalten Betroffene meist eine systemische Therapie mit Methylprednisolon. Zur Abschätzung des MS-Risikos wird eine Kernspintomographie des Gehirns durchgeführt.

Bisher fußt die MS-Therapie rein auf Entzündungshemmung. In unserem Forschungsvorhaben beabsichtigen wir, unabhängig von diesem sehr erfolgreichen Ansatz eine direkte neuroprotektive Therapie zu evaluieren. Während im Bereich der präklinischen Laborforschung hierzu eine Vielzahl beeindruckender Erfolge zu verzeichnen ist, gibt es im Bereich der klinischen Forschung bisher nur wenig Erfolge. Ein wichtiger Meilenstein in diesem translationalen Prozess war der erfolgreiche Abschluss und die Publikation der sogenannten VISION PROTECT Studie im Jahr 2012. Im Rahmen dieser Pilotstudie wurden Patienten mit Sehnerventzündung systemisch, placebokontrolliert, randomisiert und prospektiv mit Erythropoietin intravenös behandelt. Aufgrund der positiven Ergebnisse dieser Pilotstudie ist nun der nächste logische Schritt die Reevaluation dieses Konzeptes in einer statistisch adäquat gepowerten Studie.

Die Sehnervenzündung ist eine Erkrankung, die sich außerordentlich gut zur Evaluation derartiger Therapiekonzepte eignet, da die Nervenfasern der retinalen Ganglienzellen, also des dritten Neurons der Sehbahn, am Augenhintergrund direkt visualisierbar und mit den modernen Möglichkeiten der optischen Kohärenztomographie (OCT) auf fast zellulärem Niveau berührungsfrei darzustellen sind. Nach einer Sehnervenentzündung entwickelt sich innerhalb von 4 Monaten eine präzise quantifizierbare Atrophie des Sehnerven, sodass die Studiendauer für den einzelnen Patienten einen überschaubaren Zeitrahmen hat. Obwohl die funktionelle Erholung nach einer Sehnerventzündung überwiegend gut ist, verbleibt regelmäßig ein axonaler Schaden, der sich 6 Monate nach einer Sehnerventzündung in einer ca. 20%-igen Reduktion der Nervenfaserschichtdicke der Netzhaut darstellt. Die Nervenfaserschichtdicke, sowohl neben dem Sehnervkopf als auch im Bereich der Makula gemessen, ist primärer Messparameter in dieser Studie. Zweiter primärer Messparameter ist die Sehfunktion, und zwar die Kontrastsehschärfe, da diese in mehreren Studien sich als dauerhaft reduziert erwiesen hat. Sekundäre Messparameter sind die Hochkontrastsehschärfe, die Kontrastempfindlichkeit und die Tiefe des Gesichtsfelddefektes, sowie die Latenzen visuell evozierter Potentiale und die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Eigene Berechnungen, basierend auf bisher publizierten Daten, haben ergeben, dass diese randomisierte, prospektive und placebokontrollierte Studie mit 100 Patienten eine ausreichende statistische Power besitzt. Im Rahmen dieser Studie werden die modernsten OCT-Algorithmen eingesetzt.

Als interventionelle Substanz wurde das körpereigene Glykoprotein Erythropoietin (EPO) ausgewählt. Diese Substanz ist eine der wirksamsten zytoprotektiven Moleküle. Retinale Ganglienzellen exprimieren den EPO-Rezeptor, nach einer Sehnerventzündung sogar vermehrt. Intrazellulär aktiviert EPO den JAK/STAT3- und den PI3K/AKT-Signalweg. EPO hat ferner die Eigenschaft, die Bluthirnschranke zu passieren. Bei einigen neurodegenerativen Erkrankungen wie multiple Sklerose, Schizophrenie und Schlaganfall zeichneten sich in bisherigen Pilotstudien positive Effekte ab.

Im Rahmen der TONE-Studie erhalten die Patienten parallel zur leitlinienkonformen Standardtherapie mit hochdosiertem Methylprednisolon entweder Plazebo oder über 3 Tage jeweils 33.000 Einheiten EPO intravenös. Zu Beginn sowie 1, 4 und 6 Monate nach Einschluss werden die oben erwähnten Messungen durchgeführt. An die verblindete 6-monatige Studienphase schließt sich eine  1,5-jährige Phase an, zu deren Ende die Patienten erneut nach obigem Schema untersucht werden. Hierbei wird insbesondere neben den ophthalmologischen Messparametern der neurologische Status der Patienten besonders im Hinblick auf eine Konversion oder Progression einer MS von Interesse sein. Die TONE-Studie ist als multizentrische Untersuchung an 12 deutschen Universitäts-Augenkliniken geplant. Ein besonderer Aspekt der Studie ist die strikt interdisziplinäre Ausrichtung durch gemeinsame Behandlung und Untersuchung der Patienten durch sowohl neurologische als auch ophthalmologische Abteilungen. Neben den Messparametern unterliegen die Patienten einer intensiven allgemeinmedizinischen Überwachung mit Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen der Therapie. Erfreulicherweise hat die zuvor durchgeführte und 2012 in den Annals of Neurology publizierte VISION PROTECT Studie keine Nebenwirkungen gezeigt.

Zusammenfassend handelt es sich bei diesem Projekt um die erste potenziell zulassungsrelevante und arzneimittelgesetzkonforme klinische Neuroprotektionsstudie, deren möglicherweise positives Ergebnis nicht nur für die Vermeidung sehbedrohender Sehnnerverkrankungen von Bedeutung wäre, sondern insbesondere für die Therapie der MS eine wertvolle Ergänzung darstellen würde.

Schlüsselwörter: Neuritis nervi optici, Optikusneuritis, Sehnerventzündung, Erthropoietin, EPO, Multiple Sklerose,  MS, Neuroprotektion